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Eine Filmkritik von Nathanael Brohammer
Die Ohnmacht eines Volkes
Es war absehbar, dass ein Dokumentarfilm, der die israelische Besiedelung des Westjordanlandes aus rein palästinensischer Perspektive zeigt, hierzulande monomanische Reflexe mit komplizierten rhetorischen Verbiegungen triggern würde. Im medialen Gewitter nach der Vergabe des Berlinale-Dokumentarfilmpreises an „No Other Land“ und den israelkritischen Preisreden der Regisseure überlagerten vor allem Diffamierungen und verzerrende Antisemitismusvorwürfe (u.a. gegen den jüdischen Co-Regisseur selbst) die allgemeine Rezeption. Unangenehme Debatten dürften auch im Rahmen des Kinostarts vorprogrammiert sein. Unabhängig davon ist die brandaktuelle palästinensisch-norwegische Co-Produktion „No Other Land“ des Palästinensers Basel Adra und des Israelis Yuval Abraham allein schon aufgrund ihrer freundschaftlichen Entstehungsgeschichte unbeschreiblich wichtig, da sie den Hoffnungskeim auf Versöhnung in sich trägt.
Basel Adras erste Erinnerung als Fünfjähriger ist das grelle Licht einer Taschenlampe, das ihn aus dem Schlaf reißt. Es war das erste Mal, dass sein Vater festgenommen wurde. Mit sieben Jahren nimmt Basel an seinem ersten Protest teil. Archivaufnahmen zeigen seinen Großvater, seine Eltern und ihn, wie sie auf Feldern sitzen, friedlich demonstrieren, sich verbal mit dem israelischen Militär anlegen. Es ist die Zeit, in der Basel erstmals realisiert, dass seine Eltern Aktivist:innen sind, die gegen die Räumung Masafer Yattas, einem palästinensischen Siedlungsgebiet im südlichen Westjordanland mit etwa 20 Dörfern, aufbegehren. Mittlerweile ist er in ihre Fußstapfen getreten und filmt die Geschehnisse vor Ort, wenn des Nachts gepanzerte Wagen mit Militärs in die Dörfer preschen, Razzien durchführen und die Menschen aus ihren Betten reißen.
1981 wurde das Gebiet von israelischen Behörden zum Trainingsgelände für das eigene Militär erklärt. Die palästinensischen Familien, die dort seit vielen Generationen leben, sollen weichen. Ihre Gegenanträge und Beschwerden werden ignoriert. Regelmäßig also kommen die Bulldozer angerollt und machen Häuser platt. Viel plattzumachen gibt es nicht. Die Häuser – ob Wohn- oder Schulgebäude – sind notdürftig zusammengezimmerte Hütten. Das erklärt sich nicht nur aus dem Mangel an Baumaterial, sondern sicherlich auch daraus, dass es sich kaum lohnt, viel Energie in den Neubau zu investieren. Nachdem die Gebäude demoliert wurden, finden sich die entrechteten Familien, denen das Dach überm Kopf fortgerissen wurde, zusammen und bauen alles wieder auf. Bis sich alles wiederholt. Wiederaufbau, Zerstörung, Wiederaufbau, Zerstörung … Eine von israelischen Behörden als „illegal“ deklarierte Sisyphusarbeit, die mit zäher Geduld ausgeführt wird. Basel filmt die Geschehnisse aus nächster Nähe, ist mittendrin. Immer wieder kommt es zu Handgreiflichkeiten mit den israelischen Soldaten.
Nur wenige Kilometer entfernt wohnt Yuval, ein junger israelischer Journalist, der über die Unterdrückung der Palästinenser:innen im Westjordanland berichtet. Er und Basel freunden sich an, stehen zusammen, wenn die israelischen Truppen anrücken, filmen die Abrisse, die Gewalt gegen die Protestierenden. Dass die aufrüttelnden Aufnahmen teilweise unter Lebensgefahr entstanden, wird deutlich daran, dass sie gewaltvolle Übergriffe unmittelbar festhalten: unbewaffnete Protestierende, auf die das israelische Militär einprügelt, Kinder, die brutal zu Boden gestoßen werden, Menschen, auf die geschossen wird. In einer der intensivsten Szenen dieses an intensiven Szenen nicht gerade armen Dokumentarfilms fällt ein solch fataler Schuss, als ein paar Palästinenser ihren einzigen Stromgenerator, den das israelische Militär beschlagnahmen will, schützen wollen: Ein junger Mann wird getroffen, vor den Augen seiner schreienden Mutter. Eine schwere Verletzung, später verstirbt er an den Folgen.
Zu jeder Sekunde ist die Ohnmacht eines Volkes spürbar, dem auf schier unerträgliche Weise jegliche Freiheiten abgeschnürt werden und dessen berechtigte Anliegen seit Jahrzehnten von der Welt überhört werden. Umso beeindruckender ist daher, wie es den Regisseuren gelingt, ihren gelebten Willen nach Veränderung, die kämpferische Energie ihres gewaltfreien Widerstands und die unanfechtbare Würde all der Menschen zu transportieren, die dieser Unterdrückung hilf- und machtlos ausgeliefert sind. Ebenso die Präsenz und unverbrüchliche Freundschaft zwischen Basel Adra und Yuval Abraham (sowie der im Film nicht direkt sichtbaren Co-Regisseur:innen Hamdan Ballal und Rachel Szor), die sich als palästinensisch-israelisches Kollektiv von Anfeindungen weder verunsichern noch einschüchtern lassen, ringt Respekt ab in Zeiten des Lagerdenkens, in denen es wenig Raum zu geben scheint für ein solches solidarisches Zusammenwirken.
Ob man die belegbar massiv eingeschränkte Bewegungsfreiheit palästinensischer Menschen nun (im Schulterschluss mit international anerkannten Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty oder Human Rights Watch) als „Apartheid“ bezeichnet oder drumherum argumentiert: die von der Netanjahu-Regierung, dem israelischen Militär und den rechtsextremen Siedlern verübte Gewalt und Schikanen gegen palästinensische Zivilisten im Westjordanland waren bereits vor der Terrorattacke der islamistischen Hamas auf jüdische Menschen am 7. Oktober bedrückend real. Und sie sind es, wie die abschließenden Momente von No Other Land unmissverständlich darlegen, als Folge davon heute mehr denn je.
Der Internationale Gerichtshof bekräftigte inzwischen in einem am 19. Juli 2024 veröffentlichten Gutachten, dass die israelische Besetzung des Westjordanlandes eindeutig gegen das Völkerrecht verstößt.
Basel Adra, ein junger palästinensischer Aktivist aus Masafer Yatta im Westjordanland, kämpft seit seiner Kindheit gegen die Vertreibung seiner Gemeinschaft durch die israelische Besatzung. Er dokumentiert die schrittweise Auslöschung der Dörfer seiner Heimatregion, wo Soldat*innen im Auftrag der israelischen Regierung nach und nach Häuser abreißen und ihre Bewohner*innen vertreiben. Irgendwann begegnet er Yuval, einem israelischen Journalisten, der ihn in seinen Bemühungen unterstützt. Eine unwahrscheinliche Allianz entsteht. Die Beziehung der beiden wird durch die enorme Ungleichheit zwischen ihnen zusätzlich belastet: Basel lebt unter militärischer Besatzung, Yuval frei und ohne Einschränkungen. Der Film eines palästinensisch-israelischen Kollektivs aus vier jungen Aktivist*innen entstand als Akt des kreativen Widerstands. (Quelle:ImmerGuteFilme)
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IMMERGUTEFILME c/o Lichtblick Cinema GmbH
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Production Company (via Berlinale)
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Meinungen
Rita Amer · 15.04.2024
Astreine Zensur. Def Film läuft nirgends in der ganzen Republik.
Staatsräson: indem man Palästina auslöscht / ausblendet, hofft man, die Holocaust-Schuld abzutragen. Funktioniert. Wir laden noch mehr Schuld auf uns.
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Doro Vienken · 19.11.2024
Offizieller Start ist erst der 14.11.24.
Ein Wuppertaler Vertrieb hat ihn angenommen. Dort kann er gerne angefragt werden. Zusätzlich zu allen KinoVorstellungen.
Unter Kinoheld. de können Interessierte per Suchfunktion den Film in ihrer Nähe finden.
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Horst Himmel · 04.04.2024
Ich warte schon eine Weile darauf, dass diese Dokumentation in den Kinos gezeigt wird. Heute im Kinoplan der SZ wieder kein Show. Warum? Noch so ein Opfer unserer Cancel-Culture?
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Carsten Stark · 22.08.2024
Nur langsam mit den Pferden und Vorverurteilungen. Filme laufen erstmal auf einigen Festivals, um Bekanntheit und Filmverleihe für sich zu gewinnen. Wenn sie dann einen nationalen Vertrieb gefunden haben, was bei Weitem nicht allen gelingt, kommen sie in die Kinos. Das geht schnell ein halbes Jahr oder auch ein Jahr. NO OTHER LAND soll im November in deutschen Kinos starten.
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Beate Reisch · 16.11.2024
Ich denke nach langem Suchen, entdeckte in welchem Berliner Kino ich einsam den Film NO Other LAND. Ich kam in das Kino Delphi Lux (nach der üblich, blöden Werbung). . Mir strahlte des Schild entgegen AUSVERKAUFT! Ich fragte dennoch und erhielt eine Karte für Schw.erbeschädigte. Ist die geringe Möglichkeit, diesen Film zu sehen, ein versteckter Hinweis, diesen Film keine <Öffentlichkeit zu geben???? Ich denke schon!!!!
Der Film hat sich mit seinen schrecklichen Szenen gegen die palästinensische Bevölkerung an den Roman von Amos Oz "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" stark erinnert (Erstauflage 2008 im Suhrkamp Verlag).Zu dieser Zeit war es offenbar möglich , über den Konflikt, Kriegsgebaren des Staates Israels gegnüber den Palästinensern zu reden, zu schreiben. Was soll dieses Schweigen darüber??? Dumm empfinde ich nur, dass die Hamas Zivilisten als Geiseln genommen haben. Es sollten israelische Soldaten gewesen sein, die gefühlos , stoisch (wir führen nur Befehle aus) die palästinensischen einfachen Leute drangsalierte, mit Bulldozern Haus , weniges Hab und Gut und Lebensperspektive zerstörten. Mit den vielen schrecklichen Erlebnissen, der militäreischen Übermacht beginnen sie, zu resignieren, zu kapitulieren. Auch diese Hoffnungslosigkeit macht der Film sehr deutllich. Schrecklich die letzten Bilder, wie die israelischen Siedler auf protestierende Araber schießt..Wo bleibt hier der Respekt des Völker- und Menschenrechts???
Meine einzige, vielleicht kritische, Überlegung zu diesem großartigen, unvergesslichen Dokumentarfilms ist, dass als einzige Verantwortliche für diesen Völkermord nicht die israelische, missionarische Regierung zu zurückhaltend benannt wird. Ist Israel zu einem Gottesstaat mutiert.
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Britta Maciejewski · 27.02.2024
Ich bin gespannt, ob der Film in einem Kino in meiner Nähe ausstrahlt wird.
Ich wohne im Ruhrgebiet.
Viele Grüße!
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Susi · 21.03.2024
Das frage ich mich auch! Kann leider nirgends finden wo er gezeigt wird. Gerade derzeit ein so wichtiger Film der zeigt das es kein Problem zwischen Juden und. Muslimen ist, sondern eins einer falschen Politik
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Sabine · 24.02.2024
Sehr interessanter Film
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Björn Luley · 20.02.2024
Es ist unheimlich wichtig, dass solche Filme gezeigt werden, um dem leider sehr einseitig pro-israelischen Narrativ, den Nahostkonflikt betreffend, ein Gegengewicht entgege zu stellen.
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